Es gibt Übersetzungen, die reichhaltiger sind als ihre Vorlagen, farbiger, vieldeutiger, fruchtbarer. Helmut Schmitz ist mit der Findung des deutschen Titels für den neuen Ian McEwan eine solch glückliche Fügung gelungen. Aus „Sweet Tooth“ wird „Honig“, aus der Vorliebe für Süßes eine komplexere Metapher, die Kultivieren und Sammeln, (erotische) Anziehungskraft und Kleben-Bleiben, Aufbereiten und Aufheben umfasst und in deren Hintergrund ein komplexes soziobiologisches System am Wirken ist.
Honig auch als ein Medium, das sich klaren Kategorien wie fest oder flüssig verweigert, gleichzeitig trennt und verbindet, Wunden heilt oder erstickend wirken kann. Und Honig auch (wie in der Sirupflasche in Alice in Wonderland) als eine Dimension gedehnter McEwan-Zeit, langsam verfließend bis zu einer Bruchkante um dann plötzlich schnell zu verrinnen, in der ein kurzes Teegespräch die Länge von 30 Seiten annimmt und dann wieder 30 Jahre die Länge eines kurzen Teegesprächs.
Honig – eine der treffendsten Beschreibung wie ein McEwan Roman denn sei. Eben so. Honig also.
McEwans elfter Roman, ist eine mal schnelle, mal langsame aber immer am Punkt bleibende Großerzählung über die notwendige Kunst der gegenseitigen Täuschung. Camoufliert durch eine vordergründige Agentenstory, belegt sie im Kern eindrucksvoll Nutzen und Schönheit von Intransparenz und Geheimnis am Anderen, wenn es denn mit Zweien, die sich zusammentun, klappen soll. Der Plot ist übersichtlich, die Atmosphäre jedoch detailreich, packend und dicht.
Der britische Inlandsgeheimdienst MI5, verunsichert durch Ölkrise, rabiate Gewerkschaften und eine radikale IRA startet 1972 ein nationales Wiederaufforstungsprogramm für den Literaturbetrieb. Systemgenehme Tendenzen, Romane und Erzählungen sollen (auch finanziell) unterstützt und gefördert werden – eine Art Bitterfelder Weg mit Linksverkehr. Lockvogel und Honigfalle Serena, sowohl belesen als auch attraktiv, wird, mit Stipendiengeld winkend, auf den jungen Schriftsteller Tom Haley angesetzt, verfällt erst seinen Erzählungen, dann ihm selbst und steht bald vor schweren Zielkonflikten. Und nicht nur sie. Auch ist sie nicht die einzige Person, die mit verdeckten Karten arbeitet…
Sex, Politik, Spionage und Literatur tanzen in bunten Hemden mit Haifischkragen tastend und prüfend um das Feuer der Wahrheit. McEwan zieht in diesem Spiegellabyrinth wechselseitigen Blendwerks gekonnt die Fäden – vor allem aber jedoch jenen einen roten, der völlig überraschend dann am Ende doch ins Freie führt. Ein grandioser Schlussakkord für den allein das Buch schon lohnt.
Roman, Hardcover Leinen, 464 Seiten
Erschienen im Okt. 2013
ISBN 978-3-257-06874-0
Verlag: Diogenes