Jochen Schmidt: Schneckenmühle

„Schneckenmühle“ von Jochen Schmidt im Staatsschauspiel Dresden. „Im Theater gewesen. Geweint.“ könnte man bedeutungsschwanger Kafka zitieren – und würde damit gleich zweimal falsch liegen. Zum einen war Franz bekanntlich im Kino zum anderen ist das Theaterstück ein gutes, aber nicht die „Axt für das gefrorene Meer in uns“, die Kafka von (über)großer Literatur einfordert. Die Inszenierung leistet Ordentliches, allerdings nur wenig mehr, als es das Buch in seiner schmalen Größe von knapp 200 Seiten schon von selber kann.

Das ist indessen nicht wenig und so empfiehlt es sich auf jeden Fall auch (oder doch gleich) zum Original zu greifen: ein feiner, leiser und eindrücklicher Coming-of-Age-Roman über die großen und kleinen bedeutsamen Dinge im privaten Echoraum ostdeutscher Jugend kurz vor dem Mauerfall.

Der 14jährige Jens darf zum letzten Mal ins sächsische Ferienlager Schneckenmühle (das es wirklich gibt). Es ist der Sommer 1989, Österreich und Ungarn erlangen eine weltpolitische Bedeutung wie schon seit langem nicht mehr und die gesellschaftlichen Erschütterungen dringen bis in das zunächst geordnete Lagerleben vor und bringen nach und nach auch diese Kleinstruktur des Arbeiter- und Bauernstaates ins Wanken. Das Große spiegelt sich, wie gehabt, im Kleinen, aber nicht nur. Dieses behält daneben auch seinen persönlichen erinnerungsautonomen Eigenwert: History und his story eben.

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Jörg Stübing ist Buchhändler in der Dresdner Neustadt.

Jochen Schmidt hat denn auch keinen politischen Roman geschrieben und ebenso wenig einen großen emanzipatorischen Plot inszeniert, sondern er hat, stilistisch gekonnt, ein Stimmungsbild der Endachtziger Jahre, ein vielfältig verflochtenes Erinnerungsnetz auf seine eigene Kindheit, ausgeworfen. Und zieht es ein mit reichem Fang.

Capotes „Grasharfe“ und Kunzes „Die wunderbaren Jahre“ müssen als Pilotpunkte natürlich runterskaliert werden, können aber eine Ahnung vermitteln worum es in etwa geht. Wie es klang und schmeckte, wie es sich anfühlte, damals dort zu sein, dies hat er sich jedoch ziemlich gut bei einem Klassiker abgeschaut, den er intensiv, vollständig und vor allem öffentlich in einem legendären Blog studiert hatte. War es bei Marcel Proust die Madelaine, jenes, jede Erinnerung bis ins kleinste Detail herauf beschwörende Teegebäck, so könnte man diese Rolle im Schmidtschen Erinnerungsprojekt durchaus einem sächsischen Bäckereiprodukt zuschreiben: der Eierschecke. Jede Zeit schafft so ihre Symbole.

Schmidt, Jochen: Schneckenmühle
Langsame Runde
Roman 3. Auflage 2013, 220 S.
C.H.BECK ISBN 978-3-406-64698-0

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