„Ich lege eine Herz 10“, sagt Nadim. „Du bist dran“. Tahir antwortet „Ich habe nichts“, zieht eine Karte vom Stapel und reicht mit „Du bist dran“ die Reihe an Zafir weiter. Zafir guckt hilfesuchend auf seine beiden Mitspieler und zeigt seine Spielkarte. „Kreuz zehn“, erklärt Nadim auf deutsch, und auf arabisch dann wohl so etwas wie „leg sie hin, das passt“. Die drei Flüchtlinge aus Syrien kommentieren am Sonnabend Nachmittag beim Kartenspielen, was sie gerade tun. Eckehard ist heute zum ersten Mal hier, hat ihnen gerade Mau Mau beigebracht und fordert die drei immer wieder zum sprechen auf. Es wird viel gelacht in der Runde. Vor einer halben Stunde sahen die Gesichter von Nadim, Tahir und Zafir noch sehr viel angestrengter aus. Es ging um Lebensmittel – Brot, Butter, Marmelade, Wurst. Viele neue Begriffe, die in dem Satz „ich esse ….“ unterzubringen waren.
Seit sechs Wochen sind solche Szenen auf dem Ehemaligen Äußeren Matthäusfriedhof Normalität. Schräg gegenüber der Zeltstadt in der Bremer Straße hat das Umweltzentrum Dresden die Pforten für die Flüchtlinge geöffnet und bietet ihnen einen Willkommensraum. „Wir wollen hier den ersten Zentimeter Zuversicht vermitteln“, sagt Stefan Mertenskötter. Er ist der Projektverantwortliche für den Ehemaligen Äußeren Matthäusfriedhof, den das Umweltzentrum im Sommer 2013 im Rahmen eines Erbbaurechtes für 30 Jahre übernommen hat. Der Friedhof ist entwidmet, die letzten Bestattungen liegen zwanzig Jahre zurück. Als gegenüber die Zeltstadt aus dem Boden gestampft wurde, hat es nicht lange gedauert, bis die Mitarbeiter des Unmeltzentrums aktiv wurden. Zuerst gab es ein Angebot an die Frauen und Kinder, das wie ein Park wirkende Gelände zu nutzen. Ein Trampolin wurde gespendet und ein großer Sandhaufen zum Buddeln für die Kinder aufgeschüttet. „Da half uns das Stadtteilzentrum Emmers in Pieschen“, erinnert sich Susann Binder vom Umweltzentrum. Die hatten gerade ein Beach-Volleyball-Turnier beendet und jetzt viel Sand übrig. In den Hitzewochen kam noch ein Planschbecken für die Kleinen dazu. Und vor allem gab es Schatten unter den großen alten Bäumen – und Ruhe. In den Zelten gegenüber stand die Hitze, rund eintausend Menschen sind dort untergebracht.
Wenig später hatte Mertenskötter die Idee mit den ABC-Tischen. Jeweils ein, zwei oder drei Dresdner setzen sich mit Flüchtlingen an einen Tisch und reden oder lernen gemeinsam. Cornelia Pick, Friederike und Fanny hatten sich schon beim DRK im Zeltlager engagiert, Spenden sortiert und verteilt oder, wie Fanny, als medizinische Helferin gearbeitet. „Als die ersten Busse mit den Flüchtlingen kamen, haben wir sie begrüßt“, sagt Fanny. Am nächsten Tag sei sie dann zum DRK gegangen und habe ihre Unterstützung als Krankenschwester angeboten. Nach Vorlage ihres Zeugnisses funktionierte das auch. Die drei gehören inzwischen zum festen Kreis der Teacher an den ABC-Tischen. „Ein bisschen englisch können die meisten“, meint Friederike. Hier zu helfen, sei für sie „das normalste auf der Welt“.
Keiner der ABC-Helfer hat einen Kurs als Sprachlehrer besucht. Auch Ingrid nicht. Sie ist Zahnärztin und jetzt in Rente. Bevor sie vergangene Woche das erste Mal herkam, hat sie überlegt, wie sie das anstellen könnte. „Da war ich gerade beim Apfelmus einwecken und habe dann einfach ein Glas Apfelmus und Äpfel mitgenommen“, erzählt sie. Das seien schon mal drei neue Worte: Apfel, Glas, Apfelmus. Man müsse sich einfach was einfallen lassen, meinte sie und ist dann noch zwei weitere Tage hier gewesen. Auch für Montag hat sie sich wieder in der von Susann Binder angelegten Doodle-Liste eingetragen. Mehr als einhundert Helfer finden sich hier bereits. Von Montag bis Sonnabend zwischen 14 und 17 Uhr kommen sie auf den ehemaligen Friedhof und sind für drei Stunden Lehrer. Oder, wie es Mertenskötter sagt, in vielen Fällen der allererste Kontakt zur deutschen Bevölkerung.
Hassan und Monika Disouky aus Radebeul kommen gemeinsam zu den ABC-Tischen. Hassan ist Ägypter und spricht perfekt deutsch. Darum ist er ein gefragter Gesprächspartner, kann viel über die Besonderheiten der Deutschen erzählen und auf Sitten und Regeln hinweisen, die hier anders sind, als in vielen arabischen oder islamischen Ländern. „Manche erzählen ihre Fluchtgeschichten“, sagt er. So erfahre man nicht nur, dass sie zum Teil drei Jahre unterwegs waren, sondern auch etwas über Schulabschlüsse oder Berufe. Monika Disouky kommt gut vorbereitet zu den ABC-Tischen. Sie habe Bildertafeln und wichtige Vokabeln ausgedruckt, die sie an den Tischen verteilt.
Die Nachmittage auf dem Friedhof vergehen schnell. Gegen 14 Uhr stehen auf den etwa 15 Tischen Wasserkaraffen und Becher. Die ersten Teacher treffen ein. Am Sonnabend kamen fast 18, auch ganze Familien mit Kindern. Viele bringen etwas mit – Obst, Kuchen oder Saft. Dann kommen die ersten Männer aus der Zeltstadt über die Straße. Einige legen sich erst einmal auf die Wiese, die anderen finden sich an den Tischen ein. Etwas später sitzen ganze Flüchtlingsfamilien an den Tischen. Der Kontakt kommt schnell zustande. Und dann wird gearbeitet. Etwa 80 bis 100 Flüchtlinge haben am Sonnabend das Angebot genutzt.
Als Eckehard sich am Sonnabend von seinen drei Kartenspielern verabschiedet hat, war die ABC-Zeit noch nicht ganz vorbei. Zwei Jungen sprechen ihn an, beide 18 und aus Afghanistan, wie sich schnell herausstellt. Sie wollen noch lernen. Zum Glück sind noch einige Blätter mit Lebensmittel-Bildern übrig. Farhad und Kasim kommen aus Kabul. Nach einer Stunde ertönt das Signal zum Aufbruch.
Mertenskötter braucht Platz für die nächste Aktion. Ein Transporter von der „Dresdner Tafel“ steht schon im Garten. „Wir verteilen jetzt Obst“, erklärt er. Auch dafür gebe es jetzt klare Regeln, nachdem es beim ersten Mal etwas unglücklich verlaufen sei, meint er. Jetzt funkioniert das. Mertenskötter ist bei den Flüchtlingen eine Respektsperson. Jetzt hofft er auf Unterstützung der Dresdner für die kalte Jahreszeit und meint: „Wir brauchen Räume, die zu Fuß von der Bremer Straße aus erreichbar sind“.