Lebenshilfe inlusive WG

Sechs plus vier: Auf dem langen Weg zur Inklusions-WG

„Bist Du lustig?“ fragt Annegret. Sebastian antwortet: „Immer wenn ich rauche und betrunken bin“. Alle lachen. Ja, er ist lustig. Gerade erst hatten die sechs künftigen WG-Bewohner dem Kandidaten Nummer 7 klar zu verstehen gegeben, dass Rauchen und Trinken nicht erwünscht sind. Sebastian könnte einer von vier Bewohnern ohne Behinderung in der künftigen Inklusions-WG sein.

Unser Wunsch:
Wohnen so normal wie möglich, … einfach zu Hause sein.

Annegret, Stephanie, Jens, und René  planen seit zweieinhalb Jahren große Dinge. Seit kurzem sind auch Pierre und Stephan mit im Boot. Sie wollen eine inklusive Wohngemeinschaft in Dresden gründen. „Das ist der dritte Anlauf“, sagt Christian Stoebe, Projektkoordinator Inklusives Wohnen bei der Lebenshilfe Dresden. Alle Beteiligten hätten sehr viel Ausdauer gezeigt.

Jetzt ist zum ersten Mal wirklich Licht am Ende des Tunnels zu sehen. In einem Neubau an der Kesselsdorfer Straße wird eine 300 Quadratmeter große Wohnung speziell auf die ganz verschiedenen Behinderungen der künftigen WG-Bewohner zugeschnitten.

Lebenshilfe inlusive WG mai

Langer Atem nötig: Seit zweieinhalb Jahren trifft sich die Runde monatlich. Im Vordergrund Projektkoordinator Christian Stoebe. Foto: W. Schenk

Ein halbes Erdgeschoss und die erste Etage ließ die Investorin, nachdem sie von dem Projekt gehört hatte, noch einmal neu planen: Zehn WG-Zimmer, ein Pflegebad, ein weiteres Bad, 2 Gäste-WC, Platz in der Küche, ein Gemeinschaftssraum. Und es muss so gebaut sein, dass Pierre und Jens, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, alles erreichen können. Auch Parkplätze für die Elektrorollstühle gehören dazu. Mit dem Sozialamt mussten die Mietkosten abgestimmt werden.  Wenn alles klappt, soll die WG im Frühjahr 2017 einziehen.

„Es war ein Zufallstreffer“, erinnert sich Toska Zeiher, Mutter von Jens. Sie ist besonders froh, dass die jungen Leute nicht in einen völlig anderen Stadtteil umziehen müssen. Sie wohnen in Gorbitz oder Löbtau und  kennen sich hier bereits aus. Viele Steine hätten auf dem Weg zum Erfolg gelegen, manchmal ganze Felsbrocken. „Allein hätte ich längst hingeschmissen“, sagt Frau Zeiher.

„Bei solchen selbstorganisierten Wohnprojekten steht und fällt alles mit dem Engagement der Akteure“, beschreibt Projektkoordinator Stoebe seine Erfahrungen. Und er hat gesehen, wie zäh die erst vier und jetzt sechs WG-Gründer samt Eltern um ihr Projekt kämpfen. Seit mehr als zwei Jahren treffen sie sich jeden Monat in der Lebenshilfe. Im vergangenen Jahr haben sie für ihr Projekt auf der Parade der Vielfalt geworben.

Lebenshilfe inlusive WG logo

So könnte das neue Logo aussehen. Foto: W. Schenk

„Ich fühle mich als  Moderator in dem Projekt“, sagt Stoebe. Er bereitet die Treffen vor, lädt Ansprechpartner ein, vermittelt, wenn nötig auch zu den Behörden. Mit dem Verein Cerebrio, der sich um Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen kümmert, haben sie einen Partner gefunden, der die Gesamtvermietung übernimmt.

Beim letzten Treffen im Mai berieten die WGler und die Eltern über das neue Logo. Die Größe der künftigen Wohnung hat aus 4 plus 4 jetzt 6 plus 4 gemacht. Sonst wäre es nicht bezahlbar gewesen. „6 plus 4 – das sind wir“ wirft der Beamer den neuen Entwurf an die Wand. Alle freuen sich und klatschen. Das neue Logo ist für den Flyer, auf dem sich Annegret, Stephanie, René und Jens präsentiert hatten. Auch die Fotos und Kurzpoträts von Pierre und Stephan müssen ergänzt werden. Hier kommt Justus ins Spiel. Er ist Webdesinger und hatte bis dahin aufmerksam die Diskussion verfolgt. Pierre hat ihn mitgebracht. Justus ist einer von vielen Unterstützern um Freundeskreis der WGler und hat sich bereit erklärt, den Flyer zu überarbeiten. „Solche Arbeiten mache ich den ganzen Tag“, meinte er und bat die künftigen WG-Bewohner umgehend zum Fototermin in den Garten. „Noch scheint die Sonne“, drängelt er.

Aus dem Flyer für die inklusive WG:
„Gesucht werden Studierende oder andere interessierte Menschen ohne Behinderung, die Interesse am Zusammenleben mit sechs behinderten Mitbewohnern haben. Die gemeinsam voneinander lernen wollen und uns im Alltag und in der Freizeit gelegentlich unterstützen.“

Obwohl die Suche nach den vier Mitbewohnern ohne Handicap erst im August oder September beginnen soll, konnte sich mit Sebastian schon ein Kandidat beim Mai-Treffen vorstellen. Er hatte die Truppe durch seinen Job im Bundesfreiwilligendienst beim DRK kennengelernt. Wenn das Jahr vorbei ist, will er sich wieder seinen Fimprojekten zuwenden. Die sechs Mitbewohner suchen keine billigen Pflegekräfte. „Ihr sollt ganz normale WG-Bewohner sein“, meinen sie.

Einzige Bedingung wäre die Bereitschaft, im Ernstfall als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen, um Eltern oder medizinische Hilfe zu rufen, wenn Nachts keine Assistenten mehr in der Wohnung sind. „Das ist machbar“, sagt Sebastian. Das ist auch ein Problem, das Projektleiter Stoebe mit den sechs WG-Insassen und deren Eltern noch klären muss. Alle seien auf Assistenz angewiesen, aber es müssten sich nicht ständig sechs Helfer in der Wohnung aufhalten, meint er. Der gesunde Mittelweg müsse noch gefunden werden.

Pierre: Das T-Shirt habe ich von einem Theaterfestival mitgebracht. Foto: W. Schenk

Pierre: Das T-Shirt habe ich von einem Theaterfestival mitgebracht. Foto: W. Schenk

Auch die Frage nach den Anschlüssen für Internet und Telefon wartet noch auf eine Klärung. Jedes Zimmer müsse versorgt sein. Und Stephan braucht eine Lösung für sein Sky-Abo. Das, da waren sich die meisten einig, werde wohl schwierig. Aber vielleicht erklären sie dem Anbieter noch das Problem und erleben eine Überraschung.

Annegret, die gerade ein Praktikum bei der Lebenshilfe absolviert, ist die einzige, die bereits Erfahrungen mit dem selbständigen Wohnen hat. Ihre Wohnung liegt ganz in der Nähe ihrer Eltern in Radeberg. Da wird sie nun wegziehen und freut sich auf die Gesellschaft in der WG. „Auch wir haben ein gutes Gefühl“, sagt ihre Mutter Heidemarie Koch. Für sie sei wichtig, dass immer Menschen in der Nähe sind.

Für den Herbst haben sich die sechs WG-Gründer Besuch aus München eingeladen. Dort gibt es bereits eine inklusive WG. Die Bewohner bieten Unterstützung an und wollen von ihren Erfahrungen berichten. Sie planen eine deutschlandweite Plattform für inklusives Wohnen. Das Treffen wird sicher lustig. Und vielleicht gibt es ja dann ein kleines Bier, auch für Sebastian.

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