Mein erster Abend im Theaterhaus Rudi war zugleich der letzte für das Stück „Heimatabend – ein Tauchversuch“. Das bislang größte, das im Rudi je die Bretter der Welt erblickte, wie es im der Schlussansprache hieß. Ein Rückblick auf einen Abend der Superlative.
Es fühlt sich sehr weit draußen an, wenn das Rudi am letzten Novemberabend nach einer langen, langen Fahrt mit dem Rad über die Leipziger Straße in der Biegung kurz vor Trachau endlich wie eine Verheißung auftaucht. Theaterhaus Rudi – natürlich hatte ich davon gehört. Doch ich bin noch nie dort gewesen.“Das größte Amateurtheater Deutschlands“, weiß ein Begleiter zu berichten. Wir rätseln, worauf sich das bezieht und kommen zu keiner befriedigenden Antwort. Aber manchmal machen Fragen mehr Spaß als Antworten.
Der Seegang führt in die Schiffskneipe
Bevor der Theatersaal überhaupt seine Türen zur Vorstellung geöffnet hat, steht der nächste Besuch bereits fest: Ein maritimer Klamaukabend in der Schiffskneipe. Das Plakat zeigt einen Hund mit Kapitänsmütze, der durch einen Rettungsring schaut und lässt keinerlei Zweifel zu. In der Kneipe besetzen an diesem Samstagabend Mimen und ihre Dekorateure die meisten Stühle. Es wird für die zweite Vorstellung dieses Abends geschminkt. Gerade bekommt eine himmelblau gerüschte Elfe mit Bart die letzten Glitzerlinien aufgepinselt. Sie entschwindet „unters Dach“. Wir dagegen schließen uns der Menge an, die in den Theatersaal quillt. „Nur die ersten drei Reihen besetzen!“, bittet der Kartenabreißer.
„Wie eine Ewigkeit!“
Wir spulen von 20 auf 22 Uhr: Die Menge quillt aus dem Saal wie die verstrubbelten Passagiere einer turbulenten Zeitreise unter dem Kommando der Kabarettisten von „Die Anstalt“, musikalisch begleitet von Kurt Weill. „Zwei Stunden ging das nur?“, fragt ein Begleiter ungläubig. „Das kam mir wie eine Ewigkeit vor!“ Nun, diesem Satz haftet zumeist eine negative Konnotation an. Nicht so beim „Heimatabend“. Es erscheint einfach nur unglaublich, dass sich all diese Ereignisse in so kurzer Zeit abgespielt haben sollen. Wie fing das Stück nochmal an …?
Ach ja, der deutsche Rammler! Er war es, der aus einem Sarg auf Rollen mit der Aufschrift Ruhe krabbelte (eine testamentwürdige Idee) und die große Pein der deutschen Seele, eingeklemmt zwischen Unsicherheiten und überdosiertem Heriosmus, unruhig hoppelnd auf den Punkt zu bringen suchte. Damit war der Motor auch schon warm gelaufen, um den Strudel historischer Sequenzen, gespickt mit Wortwitzen, Metaphern, Märchen und Informationen so zum Wirbeln zu bringen, dass Hören und Sehen vergehen will. Das Servierte ist jedoch so fesselnd, dass ich alle Sinne aufsperre, um nur nichts zu verpassen.
Die Geschichte kennt kein Erbarmen
Das Publikum reist mit dem Ensemble auf dem Zeitstrahl durch die deutsche Geschichte: Bildhaft, eindrücklich, bitterböse, aber nie makabrer als die Realität. Atemberaubend ist nicht nur das Tempo und die Vielschichtigkeit, sondern auch die Professionalität des Dargebotenen, das kurz den Verdacht aufkommen lässt, beim Eintrittspreis habe man eine Null hinter der Zahl oder zumindest eine Eins davor vergessen. So manches herausgekitzelte Lachen bleibt mit der anschließenden Pointe im Hals stecken. Der Irrsinn des Krieges, die Lächerlichkeit von Führer-Kulten, die unerfüllbaren Versprechungen des Nationalismus, die Kontinuität von Unterdrückung werden in epische Einzelszenen voller Hintersinn gegossen und mit zeitgenössischen Schlagern, Gedichten und Hymnen zeitkoloriert.
Eine Pause in der Hälfte wäre gnädig gewesen, sich für ordnende Gedanken einen Moment an die Reeling der Schiffskneipe zu klammern. Die Geschichte kennt zwar auch kein Erbarmen, aber die kann man wenigstens nachlesen. So galoppieren wir durch Gründungen, Revolutionen, Kriege und Krisen und landen schließlich mit qualmenden Triebwerken im Schlussapplaus, für dessen Tosen drei Reihen Publikum alles geben.
A message to you, Rudi: Bislang noch kein größeres Amateurtheater erlebt!
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