Gerda Brunner aus der Leisniger Straße 53 in Pieschen sauste die Treppe von ihrer kleinen Wohnung im Dachgeschoss hinunter, die kleine Elisabeth hinter sich herziehend. Diese quengelte schon den ganzen Morgen. Im Parterre kam die Putzfrau Luise aus der Küche des Restaurants Turnerschänke. „Wohin so eilig, Gerda?“ Diese japste nur. „Keine Zeit. Muss zum Bahnhof.“ Dann eilte sie auf die Straße.
Der Wind pfiff ihr um den Kopf und trieb einen leichten Regen in ihr Gesicht. Das Quengeln der kleinen Elisabeth ging in ein Schreikonzert über. „Ruhe jetzt, verdammt noch mal. Wärst du zeitiger aufgestanden, bräuchten wir jetzt nicht so zu hetzen.“
Neue Bahnhöfe
Es war der 1. Mai 1902, ein Donnerstag. An diesem Tag eröffneten die Königlich Sächsischen Staatseisenbahnen an der Strecke zwischen Dresden-Neustadt und Riesa die neuen Haltepunkte in Pieschen und Trachau. Gleichzeitig ging der vierspurige Eisenbahnverkehr zwischen Coswig und Dresden-Neustadt in Betrieb.
Nun hätte man sich besseres Wetter für diese Ereignisse gewünscht, aber darauf hatten weder der König oder der Herrgott noch das Kapital und an ihrem Kampftag auch nicht die Sozialdemokratie den geringsten Einfluss. Und so zerrte Gerda Brunner ihre heulende Tochter unerbittlich, gegen das schlechte Wetter ankämpfend, in Richtung Leisniger Platz und durch die Bahnunterführung zum neuen
Bahnhofsgebäude in Pieschen.
Bahn soll sparen
Die Pieschener und die Trachauer waren begeistert, dass sie nicht mehr die weiten Wege gehen oder fahren mussten, ehe sie eine Zustiegsmöglichkeit zu den Zügen erreichen konnten. Und die sich seit 1869 in Staatseigentum befindliche Eisenbahn erwartete dadurch mehr Kunden und einen größeren Güterverkehr. Das sei auch nötig, denn das Sächsische Finanzministerium drängelte schon seit Monaten die Generaldirektion zu mehr Sparsamkeit und einem Ausdünnen der Zugfolgen, wie in den Dresdner Nachrichten vom 9. Mai 1902 zu lesen war.
Im vergangenen Winter konnten dadurch bereits 400.000 Mark eingespart werden. Seit dem 1. Januar 1902 verpflichtete man die Bahnbeamten zur Sparsamkeit. Für jede einzelne Lokomotive wurden besondere Leistungsbücher eingeführt. Jeder Beamte haftete nun persönlich für die Einhaltung des
vorgegeben Etats. Betrügereien bei den Rückfahrkarten sollen durch mehr Kontrollpersonal an den Bahnsteigen unterbunden werden.
Wanderroute ab Bahnhof Trachau
Zudem wolle man auch den Tourismus ankurbeln. In den Dresdner Nachrichten oben genannter Ausgabe wurde eine Wanderroute für genervte Dresdner ab dem Bahnhof Trachau beschrieben, weil diese Station neben der in Klotzsche in der Nähe eines Waldes lag. Der Wanderweg führte vom Bahnhof in Fahrtrichtung zur Geblerstraße, von da zum Sternweg, eine halbe Stunde durch den Wald. „Man kommt schließlich an den Fuß der Lößnitzberge in die Nähe von Walters Weinberg, jetzt Fiedlerhaus, eine Gegend die in ihrer abseits gelegenen Schönheit vielen Dresdnern noch nicht bekannt sein dürfte. Von hier aus führt die schattige Waldstraße rechts zur Baumwiese, links in das reizende sonnige
Oberlößnitz“, stand in der Zeitung.
Das schnelle Treppensteigen hoch zum Bahnsteig brachte Gerda Brunner fast einen Kreislaufkollaps ein. Sie musste unbedingt den Zug erreichen, denn in Meißen erwartete sie ihre Schwester. Ihr Mann, Alwin Brunner, seines Zeichens Rathausbote, wollte den Feierabend mit seinen Genossen von der Sozialdemokratie verbringen. Dazu lud der Ortsverein in das Restaurant Micktener Baubörse ein. Für die, die an diesem Tag nicht arbeiteten, gab es schon ab morgens 8 Uhr ein geselliges Beisammensein. Abends 8 Uhr, wenn die Genossen so lange nüchtern blieben oder wieder wurden, soll der Reichstagsabgeordnete Georg Horn zum Thema „Die Bedeutung des 1. Mai“ sprechen.
Gerda ging nicht mit. Für sie war dieser Kampftag nichts weiter als ein verdeckter Anlass zum Saufen. Das Geld hätte man besser für Familienausflüge verwenden können. Allein schon das Allerweltsthema über die Rolle der Bedeutung verführte doch geradezu, das Gequatsche mit Bier und Schnaps runterzuspülen, wie Gerda es ihrem Mann erst gestern vorwarf. Deshalb fuhr sie lieber mit der kleinen Elisabeth zu ihrer Schwester nach Meißen. Die kochte gern und liebte es, Gäste zu haben. Eine Wohnung zum Wohlfühlen. Und das Wetter lud sowieso nicht zu einem Spaziergang ein.
Vorschriften für das Abfahrtssignal
Der Zugführer stand bereits am Ende des Zuges und wollte gerade das Signal zur Abfahrt geben, als er die junge Frau mit ihrer kleinen Tochter japsend auf den Bahnsteig laufen sah. So hielt er inne und wartete, bis beide den Wagon bestiegen. Denn ohne seine Aufforderung durfte der Zug Pieschen nicht verlassen.
Im Anzeiger zum Amtsblatt der Königlichen Generaldirektion der Sächsischen Staatseisenbahnen vom 22. April 1902 war rechtsverbindlich aufgeführt: „In Dresden-Pieschen darf die Weiterfahrt nur nach erfolgter Freigabe durch den Zugführer an den Bahnsteigenden mit Blocksignalen für Vorortzüge
angeordnet werden. In Dresden-Trachau sind keine Blocksignale für die Vorortzüge vorhanden“ (dienen dem Sicherheitsabstand für vorausfahrende und nachfolgende Züge). Und nach dieser Freigabe setzte sich die Eisenbahn dampfend und schnaufend in Bewegung.
Der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb durchstöbert für seine Geschichten mit Vorliebe die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek.
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